Quick Note 1: Das Gleichwürdigkeitsprinzip meint nach Jesper Juul, in Beziehungen anzuerkennen, dass alle Menschen, egal welchen Alters, von gleichem Wert sind, um die persönliche Würde und Integrität des anderen zu respektieren. Gleichwürdigkeit ist, so Juul, eine der entscheidendsten Qualitäten in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die gesündesten Beziehungen stellen sich dann ein, wenn die Beziehung eine „Subjekt-Subjekt-Beziehung“ und keine „Subjekt-Objekt-Beziehung“ ist. Gleichwürdigkeit sei ein dynamischer Prozess, um die wir uns jeden Tag aufs Neue bemühen sollten. Gleichwürdigkeit sei zudem die Grundlage dafür, dass Beziehungen ein Leben lang von Vertrauen und Liebe geprägt seien. Juul sieht Gleichwürdigkeit als eine Grundhaltung an, und es geht ihm dabei auch um Anerkennung.  

 

Wie hängen das Prinzip der Gleichwürdigkeit nach Jesper Juul, die
digitale Transformation und New Leadership miteinander zusammen?

 

Die Welt befindet sich seit einiger Zeit in rasantem, insbesondere digitalem Wandel. Aber natürlich findet dieser Wandel nicht nur im digitalen Raum oder Kosmos statt, sondern auch gesamtgesellschaftlich wie global sind die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen längst zu neu gelebten Realitäten geworden. Ob wir wollen oder nicht: Die VUCA-Welt hat uns fest im Griff, und seit einem Jahr auch COVID-19.
Nur Weniges scheint so, wie es einst über Jahrzehnte etabliert und gesellschaftlich akzeptiert war, zu funktionieren. Die „alten“, starren Ordnungs- und Organisationsprinzipien greifen für unsere lokalen wie globalen Herausforderungen viel zu kurz und sind stark „ausbaufähig“ bzw. entwicklungsbedürftig.
Gefühlt befinden wir uns im „Auge des Sturms“ – zumindest würde ich es momentan so beschreiben. Es passiert, ist „voll im Gange“ und wir sind mitten drin. Von außen lassen sich beide Systeme nicht wirklich steuern. Oder doch? Das ist ja gerade die Frage. Wie können wir einen Virus „steuern“ oder „handeln“, der bereits zum ca. 4. Mal mutiert hat und auch noch weiter mutieren wird? Von außen können wir nicht, ohne Weiteres, die Steuerungs- und Reproduktionsmechanismen einsehen bzw. diese schnell genug „dekodieren“, um die „Skripte“ umzuschreiben.

 

Die digitale Transformation kann mittels des Subsidiaritätsprinzips die gleichwürdige Teilhabe fördern

 

Die digitale Transformation ist auch nur bedingt steuerbar. Allerdings lässt sie sich eher als der Virus zu unserem Vorteil nutzen und damit auch in Teilaspekten navigieren und in unsere Arbeitsprozesse integrieren. Daran haben wir uns quasi schon gewöhnt. Was nicht bedeutet, dass es zu keinen Konflikten kommt oder anderen Missverständnissen, weil wir auch virtuell sehr gut „aneinander vorbei“ reden können, wie wir alle seit spätestens letztem Jahr wissen.  

Der Punkt ist der, dass der breit angelegte „Shift“ oder evolutionäre Wandel der Organisationsprinzipien von der hierarchische Pyramidenstruktur zur agilen, wabenartigen Netzwerkstruktur am überzeugendsten umgesetzt werden kann, wenn die betroffenen Menschen gleichwürdig an der Gestaltung der neuen Prinzipien und Systeme teilhaben können. Es ist nicht angebracht, sie als passive Objekte zu betrachten, die irgendwie während des Prozesses „mitgenommen“ werden. Im Gegenteil, es ist viel wertschätzender und auf lange Sicht fruchtbarer, sie als aktive Subjekte – von Anfang an – in die transformatorischen Wandlungsprozesse einzubinden, sie zu integrieren, ihre Individualität anzuerkennen und sie wiederkehrend nach ihrer Meinung, ihren Ideen und Wünschen sowie ihren Bedürfnissen und Bedenken zu fragen.

 

Diese Haltung und Vorgehensweise der gleichwürdigen Teilhabe, kann als der Schlüssel im Hinblick auf eine erfolgreiche Transformation betrachtet werden. Es geht hierbei auch, um die seitens der Führung ermächtigten und befähigten Mitarbeiter*innen und (neuer) Führungskräfte sowie weiterhin betroffener Community-Mitglieder und anderer Kreise, zur eigenverantwortlichen Selbstführung im Sinne der agilen Selbstorganisation.
Die netzwerkartige Ordnungsstruktur der agilen Organisationen ist durch das zentrale Grundelement oder Prinzip der Subsidiarität gekennzeichnet. Das Subsidiaritätsprinzip haben die Autoren in ihrem Manifest für agile Softwareentwicklung damals nicht explizit genannt, lässt sich aber indirekt aus einigen der anderen Prinzipien ableiten.

Die Subsidiarität bedeutet, dass unabhängig ob CEO, Führungskraft oder Sachbearbeiter*in, jede*r entscheidet in seinem*ihrem Verantwortungsbereich selbst und handelt eigenverantwortlich – ohne den Blick für das große Ganze nicht zu verlieren. Die Entscheidungen werden dezentral getroffen, d.h. an den Stellen, wo sich das spezifische Wissen befindet und die Auswirkung der Entscheidung sich zuerst zeigen wird oder zum tragen kommt. Die definitiv momentanen und in absehbarer Zeit weiter zunehmend komplexen, gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen und Rahmenbedingungen lassen etwas wie „kollektive Intelligenz“ oder „Schwarmintelligenz“ entstehen. Jede*r Mitarbeiter*in, ja, jedes Individuum verfügt im ihren*seinen jeweiligen Bereich für gewöhnlich über bessere oder stimmigere Entscheidungsgrundlagen, als jeder zentrale Intellekt sie je haben kann.  

 

New Leadership hat für mich Bestandteile beider Prinzipien und ist führen im Dialog mit emotionaler Intelligenz, als auch mit diversitätssensibler Weitsichtigkeit und der Förderung von individuellen Potenzialen

 

New Leadership hängt für mich ganz stark mit dem Gleichwürdigkeitsprinzip, wie im ersten Teil beschrieben, dem Subsidiaritätsprinzip, welches ich hier im zweiten Teil erwähnt habe, und vor allem mit Dialogischer Führung zusammen. Dialogische Führung hat zum Ziel, die Selbstführung der Mitarbeiter*innen anzuregen, sie zu befähigen, „eine individuelle unternehmerische Disposition“ einzunehmen, damit sie in die Lage versetzt werden, das Unternehmen oder die Organisation in eigener Verantwortung mitzugestalten und ihren Beitrag zum Wandel leisten können. Somit soll wirksame bzw. fruchtbare Zusammenarbeit im gemeinsamen Dialog entstehen.

 

„Dialogische Führung arbeitet an der Frage, wie möglichst viele Mitarbeiter eines Unternehmens oder einer Organisation in eine individuelle unternehmerische Disposition gelangen und wie sie aus einer solchen heraus fruchtbar zusammenarbeiten können.“

Karl-Martin Dietz; Jeder Mensch ein Unternehmer.
Grundzüge einer dialogischen Kultur. (2008, 6)

 

 

Selbstführung & Coaching

 

Allgemein geht es hierbei um die grundsätzliche Selbstführung eines jeden Menschen und seine bzw. ihre Stärkung, Förderung und Ermächtigung zur Mündigkeit und selbstverantwortlichem Handeln sowie selbstorganisiertem und selbstbestimmten Arbeiten. Es geht bei Selbstführung darum, den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren, und wenn ich ihn verloren habe, zu wissen, wie ich ihn wieder zurückerlangen kann. Wenn ich merke und feststelle, dass mir die Kraft fehlt und ich mich unmotiviert fühle, dann gibt es gut umsetzbare Methoden, um aus meiner gefühlten Kraftlosigkeit, meinem Mangel an Motivation oder einem Tief wieder in meine Kraft, Zuversicht & Stärke zu kommen.
Wenn mir momentan Klarheit fehlt, ich nicht weiß, wohin und wie ich mein Leben entwickeln kann, dann kann z.B. ein (systemisches) Coaching für Klarheit sorgen. In einem Coaching können wir dazu die Fragen klären: Wer bin ich? Was will ich eigentlich wirklich, wirklich (ganz im Sinne des New Work-Gedanken)? Was macht mich aus? Was genau, ist es, das mich einzigartig macht? Was treibt mich an? Wofür stehe ich?  

 

„Im Sinne der Dialogischen Führung werden diese Prozesse verstanden als Aktualisierungen der Erkenntnis- und Freiheitsfähigkeit des Menschen.
So aufgefasst ist Dialog einerseits eine bestimmte Art des miteinander Sprechens, aber es ist auch mehr: Eine Art des Umgangs miteinander, der die Selbstbestimmung des Einzelnen fördert. Hier wird Dialog verstanden als eine Art des Umgangs, bei dem sich die Beteiligten gegenseitig helfen, eigene Einsichten und Initiativen zu entwickeln. Insofern unterscheidet sich der Ansatz der Dialogischen Führung von solchen Dialogansätzen, die Dialog ausschließlich oder überwiegend als ein Kommunikationsinstrument verstehen. (…) Es geht letztlich darum, wie die freie, sich selbst im Ganzen orientierende Persönlichkeit wirksam werden kann. Führung wird immer mehr zur Selbstführung.“

WIKIPEDIA (letzter Zugriff: 28.01.2021)

 

Was ist für mich und für dich oder für euch daran wichtig? Was können wir daraus für unsere Arbeit und unseren Alltag bislang mitnehmen? Damit aus passiv betroffenen Objekten des Wandels und der Veränderung, kurz- wie langfristig aktiv gestaltende Subjekte werden bzw. sie es bleiben können, die selbstständig und eigenverantwortlich handeln und untereinander mit Respekt und Toleranz in Beziehung*en gehen, benötigen wir – dringender denn je – ein Klima der Vielfalt, der Akzeptanz des Andersseins und des wertschätzenden Dialogs und Umgangs im o.g. Sinne, damit wahrhaftige & gleichwürdige Teilhabe & Inklusion gelingen können.
Teilhabe an Möglichkeiten des Wandels, Teilhabe an herausfordernden wie spannenden Arbeitsaufträgen und der Gestaltung der Arbeits-Welt, Teilhabe an Kunst & Kultur und schlussendlich auch Teilhabe an der agilen, digitalen Transformation. Nur so, kann echte Teilhabe nach dem Gleichwürdigkeitsprinzip im Sinne von Jesper Juul gelingen!

Zudem geht es um eine neue Form von Beziehung: Nähe. Aber nicht um den Aufbau von Nähe als Marketingstrategie, sondern um nachhaltig einen Effekt und eine Veränderung im Verhalten und Umgang innerhalb der Gesellschaft und Wirtschaft herbeizuführen, der demnach bleibend & beeindruckend zugleich ist! Also es geht ganz sicherlich, um das Herstellen von echt erlebbarer und fühlbarer Nähe, mit Leichtigkeit im Kontakt und Freude und Lust an aufrichtiger Gestaltung von Be-ziehung sowie Zukunft der Arbeit & Welt.  

 

Was meint ihr, kann uns das gemeinsam in 2021 gelingen? Wie kannst du das Prinzip der Gleichwürdigkeit bereits in deinen Alltag und an deinem Arbeitsplatz, während der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen und Kund*innen oder Partnern bewusster einfließen lassen?
Ganz ohne Druck, einfach mal machen und sehen, was passiert.
Wie fühlt sich das dann für dich an?

 

„Das Führen eines gleichwürdigen Dialogs lässt sich schnell lernen, sofern wir gewillt sind,
uns offen auf den Gesprächspartner einzulassen,
statt per se zu glauben, wir seien im Recht oder wüssten alles besser.“

Jesper Juul

 

Wie offen treten wir unserem Gesprächspartner gegenüber? Wie häufig lassen wir uns völlig unvoreingenommen auf den anderen wirklich ein? Schon einmal darüber nachgedacht? Und: Ist das immer möglich? In welchen Situationen gelingt euch das leichter und in welchen geht das gerade eben oder auch überhaupt nicht. Ist das dann nicht okay? Es ist okay, denke ich, weil es menschlich ist. Es ist aber auch okay, es wenigstens jeden Tag neu zu versuchen.  

 

In einer Partnerschaft, einer Liebesbeziehung, ist die zentrale Frage nach Jesper Juul, wie ein Paar Liebende bleiben kann, wenn das Familienchaos ausgebrochen ist, wie er es beschreibt. Juul betont, dass auch hier entscheidend sei, welche Art von Beziehung wir haben. Genau wie im Zusammenleben mit Kindern. Er fragt: Interessieren mich die Gefühle, Gedanken und Absichten meines Partners oder meiner Partnerin? Begegne ich ihm oder ihr mit Offenheit und Verständnis? Und bin ich bereit, mir die Bedürfnisse und Grenzen meines Gegenübers und vor allem auch meine eigenen klarzumachen? Wann ist eine Trennung der bessere Weg für die Erwachsenen, um weniger unglücklich zu sein und glücklich zu werden?
Juul schreibt, manchmal sei es wichtig, dass Eltern zuerst an sich denken, statt immer nur das Beste für die Kinder zu wollen. Fast immer profitiere letztendlich die ganze Familie davon. Und: Beziehungsglück ist Familienglück.

Die Qualität der Paarbeziehung entscheide über die Stimmung und Atmosphäre in der Familie. Ein wichtiger Schritt sei es nach Juul, als Erwachsene, sich seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen bewusst zu machen und diese klar zu vermitteln. Mutter zu werden, Vater zu werden, Familie zu werden bedeutet demnach vor allem an sich selbst zu arbeiten und auch an seiner Liebesbeziehung. Juul regt u.a. an, sich konkret zu fragen:
Wer bin ich? Und wohin möchte ich – nicht nur als Mutter oder Vater, sondern auch als Frau und Mann und mit meinem Partner oder meiner Partnerin? Darüberhinaus gibt er weitere Anregungen und verdeutlicht, wie in einer liebevollen Partnerschaft, die Kommunikationsfähigkeit verbessert werden kann. Wichtig ist für mich hier vor allem, dass wir für uns selbst die Fragen klären, wer wir sind und was (oder auch wen und wie) wir wirklich wollen.    

 

 

Quick Note 2: Jesper Juul, dänischer Lehrer, systemischer Familientherapeut, Konfliktberater und Autor zahlreicher „Erziehungsratgeber“, wird als einer der Protagonisten, einer neuen, zukunftsorientierten Pädagogik angesehen. Neben anderen prominenten Autoren und Fachgrößen, wie z.B. dem Neurobiologen Gerald Hüther, dem Engländer Sir Ken Robinson, einem international geachteten Autor, Speaker und Erziehungs- und Kreativitätsexperten.  

Quick Note 3: Das Subsidiaritätsprinzip als grundlegender Bestandteil vieler moderner Gesellschaftsordnungen sieht vor, dass Aufgaben und Problemstellungen stets von der kleinsten möglichen Einheit bewältigt werden. Übergeordnete Instanzen greifen nur dann unterstützend (= subsidiär) ein, wenn es unbedingt erforderlich ist. Subsidiarität = Ein Problem wird auf der niedrigsten, möglichen Stufe gelöst.  

 

Buchempfehlungen:

  • Jesper Juul: Aus Erziehung wird Beziehung, 2005.
  • Jesper Juul: Was Familien trägt: Werte in Erziehung und Partnerschaft, 2006.
  • Jesper Juul; Knut Krüger: Dein kompetentes Kind: Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie, 2009.
  • Jesper Juul; Mathias Voelchert: Frau und Mutter, 2014.
  • Jesper Juul; Ingeborg Szöllösi: Mann und Vater sein, 2017.
  • Jesper Juul: Liebende bleiben: Familie braucht Eltern die mehr an sich denken, 2017.
  • Jesper Juul: Das Kind in mir ist immer da: Mein Leben für die Gleichwürdigkeit, 2018.

 

error: Content is protected!