Was du in diesem Artikel lesen wirst und warum mir das wichtig ist: Seit meiner Ausbildung zum systemischen Coach beschäftige ich mich mit der so genannten systemischen Haltung, die für eine*n systemische*n Coach hilfreich und authentisch-professionell zugleich ist. Mich fasziniert an der Haltung und Denkweise Jesper Juuls, dass er erfrischend anders, irgendwie „spielerisch leicht“ mit einer sehr lässigen humanen Note, verdeutlicht wie eine Beziehungsgestaltung auf Augenhöhe, die dann weniger konfliktgeladen, aber dafür ausgeglichener, zwischen Eltern und Kindern und zwischen Erwachsenen grundsätzlich aussehen kann. Das hat mich völlig überzeugt. Ich hoffe, du wirst dann auch überzeugt sein, dass es eigentlich gar nicht so schwer ist. Kommst du mit mir mit und wagst einen zunächst allgemeinen Einblick in Juuls „Gedankenwelt“? Ja? Wunderbar! Here we go!

Der dänische Lehrer, systemische Familientherapeut, Konfliktberater und Autor zahlreicher „Erziehungsratgeber“, Jesper Juul, hat den Wert der Gleichwürdigkeit geprägt. Es ist seine Wortkreation. Als systemischer Familientherapeut hatte sich Juul der Beziehung zwischen Eltern zu ihren Kindern gewidmet. Seine Analyse- und Betrachtungsweise lässt sich sehr gut auf andere gesellschaftliche Kontexte – wie den Businesskontext und in Partnerschaften – übertragen.

Folgende vier Werte helfen nach Juul, die Eltern-Kind-Beziehung sowie grundsätzlich alle sozialen Beziehungen allgemein, genauer zu betrachten und entwicklungsfördernd zu stärken:

 

  • Gleichwürdigkeit
  • Integrität
  • Authentizität
  • Verantwortung

 

Weitere begünstigende Schlüsselfaktoren, die für den Aufbau einer tragenden Beziehung auf „Augenhöhe“ und damit mit Gleichwürdigkeit von Bedeutung sind und eine unterstützende Rolle nach Juuls spielen: Das Selbstwertgefühl (das Erkennen des eigenen Wertes und das entsprechende Verhalten und Handeln nach diesem sowie ein Gefühl für sich Selbst zu entwickeln) und ein gesundes Maß an Selbstvertrauen zu entwickeln (2005; s.u.) und von der Subjekt-Objekt-Beziehung zur Subjekt-Subjekt-Beziehung zu kommen. Mir geht es hier speziell um den Wert der Gleichwürdigkeit. Er spielt aus meiner Sicht eine entscheidende Rolle für gelingende Kommunikation von Mensch zu Mensch – völlig egal, in welchem Setting dieses stattfindet.

Ob in face-to-face-Interaktionen oder digital, ob Eltern-Kind-Beziehung oder jegliche Form einer zwischenmenschlichen Beziehung, dies spielt gerade im Business-Kontext und in diesen Zeiten der digitalen Transformation eine bedeutende Rolle. Darauf gehe ich im 2. Teil des Artikels näher ein.
Im 2. Teil könnt ihr auch noch erfahren, wie die Gleichwürdigkeit als Prinzip mit den Bereichen New Leadership und Partnerschaften aus meiner Sicht zusammenhängt, was dies für den Wandel bedeuten kann und wieso es einem Wunder gleicht…

 

Eine wichtige Quintessenz aus seinem Buch: „Aus Erziehung wird Beziehung: Authentische Eltern – kompetente Kinder“ (2005) ist, dass Eltern, wenn sie einen aufrichtigen Dialog mit ihren Kindern wagen und authentisch mit ihnen kommunizieren, sie dann von Erziehung der Kinder zu einer wahrhaften Beziehung mit den Kindern kommen. Der authentische Dialog zwischen Eltern und Kindern ist hierbei der Schlüssel. Aus Erziehung wird Beziehung. Oder besser: Be-ziehung. Das meint, so viel wie: Ich beziehe mich auf dich. Und jetzt in diesem Moment, nur auf dich. Ich höre dir genau zu und bin für dich da. Ich höre genau hin, was du zu erzählen hast. In diesem Buch und den Interviews mit Ingeborg Szöllösi geht es um die Frage: „Wie kann aus Erziehung eine lebhafte, warme und tiefe Beziehung zwischen Eltern und Kindern werden?“ Jesper Juul hat versucht, Eltern zu vermitteln, dass wir Erwachsene müssen lernen, Kinder auf eine neue, sensiblere Weise zu sehen und ernst zu nehmen und auch störendes Verhalten in Botschaften zu übersetzen. Das heißt, in jedem vermeintlich störendem Verhalten liegt eine Beziehungsbotschaft indirekt enthalten, die wir nicht ignorieren oder abtun sollten als „störend“, sondern der wir nachgehen und Raum zum Ausdruck geben sollten.

Diese Erkenntnisse können wir, so denke ich, gut auf alle weiteren Lebensbereiche übertragen. Ein authentischer, offener Dialog, ein wertschätzendes, gleichwürdiges Gespräch auf Augenhöhe ist häufig, wenn wir darüber nachdenken und ehrlich zu uns selbst und mit anderen sind, wirklich der Schlüssel, meist der einzig „passende“, um in den Kontakt mit meinem Gegenüber zu kommen oder eine verfahren oder ausweglos scheinende Situation zu verändern. Jeder von uns hat bestimmt schon einmal die Erfahrung gemacht, dass so eine gerade beschriebene Begegnung zwischen zwei oder auch mehreren Menschen, also bei jedem zwischenmenschlichen Kontakt, im wahrsten Sinne des Wortes „wahre Wunder“ bewirken kann – und dies ist ausdrücklich nicht nur auf die Eltern-Kind-Ebene begrenzt!

Oder wie erlebt und seht ihr das? Kennt ihr Beispiele aus eurem Alltag, von eurem (virtuellen) Arbeitsplatz mit Kolleg*innen über Zoom oder Teams, in Partner- oder Freundschaften und natürlich eure eigenen Erfahrungen aus der Kindheit oder selbst als Eltern?
Mich interessiert eure Meinung, die ihr gerne mit mir teilen könnt. Austausch ist auch Be-ziehung und Austausch nach dem Gleichwürdigkeitsprinzip alles.

In einem Coaching-Setting kommt es zum Beispiel bei der Beziehungsdynamik zwischen Coach & Coachee auf eine gleichwürdige Beziehungsgestaltung im Wesentlichen an. Die Beziehungsqualität und das angestrebte symmetrische Beziehungsverhältnis werden vor allem durch dieses ausgewogene Maß an Gleichwürdigkeit zwischen beiden Gesprächspartnern bestimmt.

 

„Gleichwürdig bedeutet nach meinem Verständnis sowohl »von gleichem Wert« (als Mensch) als auch »mit demselben Respekt gegenüber der persönlichen Würde und Integrität des Partners. In einer gleichwürdigen Beziehung werden Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner gleich ernst genommen und nicht mit dem Hinweis auf Geschlecht, Alter oder Behinderung abgetan oder ignoriert. Gleichwürdigkeit wird damit dem fundamentalen Bedürfnis aller Menschen gerecht, sehen, gehört und als Individuum ernst genommen zu werden

Jesper Juul;
Was Familien trägt: Werte in Erziehung und
Partnerschaft. (2006, 24; Hervorheb. IMSJ)

 

 

Das Prinzip der Gleichwürdigkeit im Coaching

 

Im Coaching bestimmt dieser Wert bzw. diese Haltung auch die Art, wie mein Coachee und ich als Coach miteinander umgehen und kommunizieren. Das ist mir – aus meiner professionellen Sicht und systemischen Haltung heraus – von meinem Coaching-Verständnis her, fundamental wichtig.
Es steht bei mir und meiner Arbeit an erster Stelle und definiert mich, wie ich mich und meine Arbeit sehe und begreife. Für mich ist gutes, wirksames und menschenzentriertes Coaching, geprägt von der Art & Weise der Beziehungsgestaltung und der Prozessgestaltung, als auch dem Prinzip der Gleichwürdigkeit. Nur dann ist – aus meiner Sicht – aktive Arbeit an der Situation in Richtung Wandel und Veränderung möglich. Nur dann, kann echte Wirksamkeit im Kontakt zwischen Partnern entstehen. Nur dann, fühle ich mich als systemischer Berater und Coach und insbesondere als Mensch so richtig frei, wirksam und erfüllt; nur dann, fühle ich mich als Coachee, als Person frei, wirklich gesehen und verstanden. Das Gefühl was, meiner Ansicht nach, entstehen und bleiben soll ist: Hier kann ich Ich sein, hier im Kontakt fühle ich mich sicher und frei, dass zu äußern, was mich wirklich im Innersten bewegt und was mich als Mensch – abseits meiner Rolle – sonst noch ausmacht. Hier darf ich sein. Ich und mein*e Anliegen werden ernst genommen, so wie ich bin, bin ich ok. Ich bin nicht hilflos der Situation ausgeliefert, ich kann sie jetzt aktiv ändern und den Ausgang der Situation neu bestimmen, die Richtung und die Perspektive wechseln und meine Geschichte „neu“ schreiben bzw. eine neue Narrative dafür entwickeln.

Beratung und Coaching auf Augenhöhe bedeuten demnach, dass ich immer wieder den Versuch unternehme, zwischen mir, in meiner Rolle als Coach/Berater, und dem Klienten bzw. Coachee stets Gleichwürdigkeit herzustellen. Ich reflektiere mich und meine innere Haltung regelmäßig darauf bzw. prüfe, wie ich in der Coachingbeziehung immer wieder erneut Gleichwürdigkeit erreichen kann, damit es eine ebenbürtige Beziehung bleibt, die ausbalanciert ist.
Ich frage mich, wie ich mit meinem Coachee oder Klienten wieder in die Gleichwürdigkeit kommen kann, wenn sich die Beziehungsdynamik während unseres Coachinggesprächs oder zwischen der nächsten Session verändert hat, so dass ein spürbares Ungleichgewicht entstanden ist, welches den „Flow“ des Beratungs- oder Coachingprozesses ungünstig „negativ“ beeinflussen kann.

 

Das ist eine Handlungsmaxime der ich in meiner Arbeit als Coach folgen werde und die ich erlebbar vermitteln möchte – mit Respekt & Achtung der Persönlichkeit, mit Leichtigkeit & Lachen, mit Feingefühl, Menschlichkeit, der Seele und wachem Geist.

 

Von Bedeutung bei Juuls Verständnis einer zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung nach dem Gleichwürdigkeitsprinzip, ist auch der wesentliche Unterschied, dass wir in der Interaktion mit anderen Menschen, sei es Arbeitskolleg*innen, Mitarbeiter*innen, Kund*innen, Kinder oder Partner und Freund*innen, von der Subjekt-Objekt-Beziehung zur Subjekt-Subjekt-Beziehung kommen. D.h. wir behandeln und sprechen mit unserem Gegenüber nicht mehr so, als ob es sich bei ihm oder sie um ein „willenloses“ oder „unmündiges“ Objekt handeln würde, welches wir nach unserem Willen, „von oben herab“ behandeln, mit sie*ihm sprechen oder „übergehen“ könnten.

Das Wesen einer gleichwürdigen Beziehung zeigt sich in der Anerkennung oder dem gleichermaßen Ernstnehmen der Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner. Dabei heißt Anerkennung nicht Erfüllung, bedingungslose Akzeptanz, Konsenszwang oder Basisdemokratie, sondern den anderen als Menschen und Person zu achten, ihn zu hören und zu sehen (vgl. Juul, 2006). Es ist darum nicht zulässig, jemanden aufgrund seines Alters, Geschlechts, einer Behinderung oder Beeinträchtigungen herabzuwürdigen und sich über ihn hinwegzusetzen. Anerkennung ist DAS Grundbedürfnis, nach dem die meisten Menschen streben oder wofür viele von uns leben. Der Wert der Gleichwürdigkeit ist in Juuls Anschauung eine der zentralen Qualitäten zwischenmenschlicher Beziehungen. Juul beruft sich dabei einerseits auf seine langjährige familientherapeutische Erfahrung, andererseits auf Befunde der Bindungsforschung (Ainsworth & Bowlby, 1965; 1969; 2001).

Bemerkenswert finde ich auch in diesem Zusammenhang, dass Juul die Einschätzung verbalisiert hat, dass die Art und Weise, wie wir unsere Kinder behandeln, für die Zukunft der Welt von entscheidender Bedeutung ist (vgl. 2009). Kinder sind ja unsere Zukunft – und das vergessen wir nur allzu gerne. Darüberhinaus, so denke ich, kann man grundsätzlich festhalten, dass die Art und Weise, wie wir miteinander in jeglichen Kontexten umgehen, ebenfalls entscheidend zur Entwicklung und Zukunft der Welt – Arbeits-, Wirtschaft- und Lebenswelt – beiträgt. Noch nie zuvor waren wir in der Lage, so schreibt Juul, gleichwürdige Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Erwachsenen und Kindern aufzubauen. Ich ergänze hier: Gleichwürdige Beziehungen zwischen Menschen aufzubauen.

 

 

„Die Forderung nach Gleichwürdigkeit impliziert aber auch Offenheit und Toleranz, erfordert eine generelle Akzeptanz von Verschiedenartigkeit, was bedeutet, dass wir einen Großteil unserer Vorstellungen, was richtig und falsch ist, überdenken und gegebenenfalls über Bord werfen müssen. Wir können nicht einfach eine Methode, durch eine andere ersetzen, genauer gesagt: Es reicht nicht aus, unsere Irrtürmer zu modernisieren.
Gemeinsam (…) brechen wir buchstäblich zu neuen Ufern auf.“

Jesper Juul;
Dein kompetentes Kind. (2009, 14f.)

 

 

Ist das nicht ein motivierender und versöhnender Ansatz und Gedanke von Jesper Juul? Das tolle daran ist, dass er sich sehr gut auf alle Lebensbereiche übertragen lässt, wie ich finde. Oder wie seht ihr das? Auf zu neuen Ufern, damit sich unsere Art der Beziehungsgestaltung in Arbeit & Leben, für die Zukunft der Arbeit & Welt endlich aufrichtig verbessert und noch lange nachhaltig positiv wirken und „nachklingen“ kann. Nach ihm müssen wir zu einer Form des Dialogs finden, „(…) der persönlich ist und auf der gleichen Würde des Einzelnen beruht.“ (2009, 15).

Hast du Lust auf einen weiteren Abstecher in diese wundersame Galaxie der „changing patterns“ und der Gleichwürdigkeit als Art und Umgangsweise, wie wir Beziehungen fruchtbarer gestalten können? Na, dann begleite mich in zwei Wochen noch ein Stück weiter…

 

… To be continued …

 

 

error: Content is protected!